Berlin, 11.12.2023. Die Verhandlungen über die Position der EU-Agrarministerinnen und Agrarminister und des Agrarausschusses im Europaparlament zur künftigen Regulierung neuer Gentechniken (NGT) kommentiert BÖLW-Vorsitzende Tina Andres:
„Die EU-Agrarministerinnen und -minister sowie die Mitglieder des Landwirtschaftsausschusses im Europaparlament beraten heute – erneut – über nichts weniger als die Freiheit von Bürgerinnen und Bürgern, Bauernhöfen und Unternehmen, selbst über ihr Essen oder ihre Produktion entscheiden zu können. Die EU-Kommission zielt mit ihrem Gesetzentwurf auf eine radikale Abschaffung von Risikoprüfung und Kennzeichnung ab, für fast alle mit neuen Gentechniken entwickelten Pflanzen. Dieser Schleifung zentraler europäischer Umwelt- und Verbraucherschutzstandards darf die Bundesregierung nicht zustimmen!
Manche konservativen Abgeordneten im Agrarausschuss (auch aus Deutschland!) wollen sogar ökologisch wirtschaftenden Höfen und Unternehmen gegen deren erklärten Willen neue Gentechnik-Konstrukte aufzwingen. Obwohl sogar die EU-Kommission einsieht, dass der Einsatz von Gentechnik im Widerspruch zu den Grundprinzipien der ökologischen Produktion steht!
Immer mehr Menschen begreifen, dass und wie hinter ihrem Rücken über ihre Wahlfreiheit verhandelt wird. Mehr als 50.000 Menschen haben in nur fünf Tagen eine Online-Petition unterschrieben, die von Bio-Bäuerin Bärbel Endraß initiiert und vom BÖLW unterstützt wurde. Wer rigoros den Profit der Gentechnik-Lobby vor die Interessen der Menschen in Europa stellen und derart fahrlässig mit Grundrechten umgehen will, fördert Europaskepsis, Politikverdrossenheit und sägt an den Wurzeln unserer europäischen Demokratie!“
Weiterführende Informationen: BÖLW-Mitgliederversammlung bekräftigt Forderung nach Gentechnik-Regulierung | Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (boelw.de)
Petition - Kennzeichnung und Regulierung aller Gentechnik-Pflanzen erhalten: https://weact.campact.de/petitions/kennzeichnung-und-regulierung-aller-gentechnik-pflanzen-erhalten
Hintergrund
Am 5. Juli 2023 legte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf für Neuregelung der Gentechnik vor. Dieser wird nun vom Rat der EU-Mitgliedsstaaten und dem EU-Parlament beraten. Federführend für die Positionierung des Rates sind die Landwirtschaftsministerinnen und -minister, für Deutschland also Bundesminister Cem Özdemir. Rat und Parlament stimmen zunächst intern ihre Änderungswünsche am Gesetzentwurf der EU-Kommission ab und verhandeln dann zusammen mit der Kommission im sogenannten „Trilog“ über die finale Verordnung. Ob und wann die Trilogverhandlungen aufgenommen und abgeschlossen werden können, ist derzeit noch offen. Der Rat muss seine Position mit einer qualifizierten Mehrheit beschließen, um Trilog-Verhandlungen aufnehmen zu können. Dafür braucht es die explizite Zustimmung von mindestens 55 % der EU-Mitgliedstaaten, die außerdem mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen.
Im Europaparlament beraten zunächst der Agrarausschuss und anschließend der federführende Umweltausschuss über den Gesetzentwurf („Legislativvorschlag“) der EU-Kommission. Nach den Ausschüssen muss dann das Plenum des Parlaments die finale Positionierung beschließen. Die schwedische Abgeordnete Jessica Polfjärd von der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) ist federführende Berichterstatterin für diese Beratungen. Zur EVP-Fraktion zählen auch die deutschen Abgeordneten von CDU und CSU.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfs:
Die EU-Kommission will die Gentechnikregeln so verändern, dass Gentechnikverfahren wie CRISPR-Cas praktisch nicht mehr reguliert werden, obwohl damit fundamentale Eingriffe in das Genom von Lebewesen möglich sind.
Die EU-Kommission schlägt zwei verschiedene Kategorien von Gentechnikpflanzen vor. Bei NGT-Konstrukten, die angeblich „gleichwertig“ zu konventionellen Pflanzen sein sollen, werden Genmanipulationen an bis zu 20 Stellen im Genom erlaubt sein (Kategorie 1). Auch die Entfernung “einer beliebigen Zahl” von Gen-Bausteinen würde in diese Kategorie fallen. Für einen wissenschaftlich fundierten Vergleich mit anderen Pflanzen – und insbesondere für die gesundheitliche und ökologische Risikoabschätzung – wären neben der Zahl von Veränderungen vor allem die veränderten Eigenschaften (z. B. die Produktion von Toxinen o. ä.) relevant. Dies wird im EU-Vorschlag jedoch gar nicht adressiert. Die Kommission legt keine wissenschaftliche Herleitung dieser Kategorien vor. Für diese Gentechnikpflanzen soll keine Risikoprüfung oder Kennzeichnung mehr erforderlich sein. Sie sollen künftig nur „angemeldet“ werden. Ausschließlich das Saatgut soll als „NGT“ gekennzeichnet werden müssen. Die daraus entstandenen Pflanzen und deren Produkte hingegen nicht. Experten schätzen, dass etwa 90 Prozent der künftigen Gentechnikpflanzen in die Kategorie 1 fallen werden.
Alle anderen neuen Gentechnikpflanzen werden der Kategorie 2 mit einem abgeschwächten Zulassungsverfahren zugeordnet.
Insgesamt würde es nach dem Vorschlag der Kommission demnach drei unterschiedliche Gentechnik-Regelungen geben:
A) die bisherigen Regeln für Gentechnik mit Fremd-Genen („transgene Pflanzen“),
B) Gentechnik-Pflanzen der Kategorie 1,
C) Gentechnik-Pflanzen der Kategorie 2.
Für die Land- und Lebensmittelwirtschaft sind damit erhebliche bürokratische Lasten und Risiken verbunden.
Kein „Opt-out“: Anders als im bisherigen Recht sieht der Vorschlag vor, dass die EU-Staaten auf ihrem Gebiet den Anbau oder die Verwendung von Gentechnik-Pflanzen der Kategorie 1 oder 2 nicht einschränken oder verbieten dürfen.
In der ökologischen Produktion sollen laut Vorschlag der EU-Kommission alle Kategorien von NGT-Pflanzen und daraus gewonnenen Produkten weiterhin ausgeschlossen sein. Dieser Ausschluss wird im Europaparlament jedoch von der EVP angefochten. Konkrete Regelungen, wie ein NGT-Ausschluss in der Praxis umgesetzt werden soll, sind bisher nicht definiert.
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