Berlin, 28.10.2021. 15 Dachorganisationen, Verbände und Fachgesellschaften aus den Bereichen Gesundheit, Soziales, Ernährung und Umwelt verlangen von der künftigen Bundesregierung, im Rahmen der Koalitionsverhandlungen den Grundstein für eine umfassende Ernährungswende zu legen.
In seiner aktuellen Form stellt unser Ernährungssystem die planetaren und gesellschaftlichen Belastungsgrenzen zunehmend auf die Probe – hierüber besteht breiter Konsens [1]. Eine umfassende Wende im aktuellen System ist dringend nötig: für den Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz, für soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft und mehr Tierwohl. Bislang ist die deutsche Ernährungspolitik völlig unzureichend und überlässt den Verbraucher:innen die alleinige Verantwortung [2]. Notwendig ist daher eine Veränderung der Rahmenbedingungen, um gesundheitsförderndes und ökologisch nachhaltiges Essen für alle zu ermöglichen.
Belastungsgrenze Umwelt und Klima: Unsere gegenwärtigen Ernährungssysteme – vom Acker bis zum Teller gedacht – sind verantwortlich für 70 Prozent des Verlustes an biologischer Vielfalt, 80 Prozent der Entwaldung und für 70 Prozent des Wasserverbrauchs der Menschheit [3]. Zudem verursachen Landwirtschaft und Landnutzung 21 bis 37 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen [4], größtenteils durch unseren hohen Konsum tierischer Produkte [5]. Wir sind mit unseren derzeitigen Ernährungsgewohnheiten in Deutschland somit maßgeblich an den gravierenden Umweltproblemen unserer Zeit beteiligt: von der Klimakrise über das Artensterben bis hin zur Zerstörung der verbleibenden natürlichen Lebensräume.
Belastungsgrenze Gesundheit: Ob beim Einkaufen, in Kitas und Schulen, in Betrieben oder unterwegs: Es gibt zahlreiche Faktoren, die derzeit ein gesundes und nachhaltiges Einkaufen und Essen erschweren. Rund ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland hat starkes Übergewicht (Adipositas) – Tendenz steigend [6]. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sind die Auswirkungen der bewegungsarmen Coronazeit zusätzlich sichtbar. Bereits heute hat jedes siebte Kind Übergewicht [7]. Ernährungsmitbedingte Krankheiten, wie Diabetes, Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen, verursachen heute in Deutschland nicht nur Kosten in Milliardenhöhe, sondern vor allem auch viel Leid und vorzeitige Todesfälle [8].
Belastungsgrenze soziale Gerechtigkeit: Es gibt erhebliche Ernährungsarmut in Deutschland. Eine gesunde, ausgewogene und nachhaltige Ernährung ist für Menschen mit geringem Einkommen oft nicht erschwinglich [9]. Menschen, die auf existenzsichernde Leistungen wie „Hartz IV“ angewiesen sind, steht monatlich gerade einmal ein Betrag
von 155 Euro für Nahrung und Getränke zur Verfügung. Gesundes, nachhaltiges Essen darf kein Privileg für einkommensstarke Haushalte sein, sondern ist ein Recht für alle.
Das Sondierungspapier zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP betont, dass sich das politische Handeln an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (SDGs) ausrichten wird. Dazu gehört u. a. auch „die Armut zu beenden, Ernährungs-sicherheit und eine bessere Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern“ (SDG 2) sowie „nachhaltigen Konsum und Produktionsmuster sicherzustellen“ (SDG 12). Zentral für unseren Aufruf ist die Zusage im Sondierungspapier, „Vorsorge und Prävention zum Leitprinzip der Gesundheitspolitik zu machen“.
Für die Initiatorinnen und Initiatoren dieses Appells gehört eine gesundheitsfördernde, umweltverträgliche, sozial gerechte und dem Tierwohl zuträgliche Ernährungspolitik zu den maßgeblichen Querschnittsaufgaben der politischen Akteur:innen in der kommenden Legislaturperiode. In den jetzt stattfindenden Koalitionsverhandlungen müssen daher umgehend die politi-schen Weichen gestellt werden.
Wir fordern die neue Bundesregierung und die Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages auf, die Ernährungspolitik als zentrales Politikfeld kohärent, wirksam und ressortübergreifend zu gestalten und die dafür nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Kernforderungen an die neue Bundesregierung
1. Schaffung einer Zukunftskommission Ernährung
Ernährung geht uns alle an, und es ist wichtig, alle relevanten Perspektiven zu berücksichtigen. In die Zukunftskommission Ernährung werden Praktikerinnen, Wissenschaftlerund gesellschaftliche Akteurinnen aus allen relevanten Bereichen und Berufsgruppen eingebunden. Aufgabe der Zukunftskommission ist es, bis Ende 2022 ein Leitbild für eine sozial gerechte, gesundheitsfördernde, umweltverträgliche und dem Tierwohl zuträgliche Ernährung in Deutschland zu entwickeln. Grundlage des Leitbildes sind die planetaren Belastungsgrenzen.
2. Erarbeitung einer ressortübergreifenden Ernährungsstrategie
Die Bundesregierung verabschiedet Anfang 2023 eine ressortübergreifende Strategie, die alle vier Nachhaltigkeitsdimensionen – Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl – beinhaltet sowie die planetaren Grenzen respektiert. Dazu gehört auch die zukünftige Gewährleistung von fairen Arbeitsbedingungen in allen ernährungsrelevanten Berufen und entlang der gesam-ten Lieferkette. Zentrale Vorarbeiten hierfür leistet die Zukunftskommission Ernährung.
3. Lebensmittelbesteuerung auf den Prüfstand
Bis 2022 überprüft die Bundesregierung die Lebensmittelbesteuerung auf ihre Wirkung in Bezug auf eine sozial gerechte, gesundheitsfördernde, umweltverträgliche und dem Tierwohl zuträgliche Ernährung und erarbeitet konkrete Vorschläge. Ziel ist es, dass zukünftig die gesunde und nachhaltige Wahl die einfache und günstigere Wahl ist.
4. Sozial gerechte Ernährungspolitik
Eine Ernährungswende darf nicht dazu führen, soziale Ungleichheiten zu verstärken, sondern muss vielmehr dazu führen, dass eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung allen Menschen ermöglicht wird. Dies gilt insbesondere für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen. Die Höhe der Sozialleistungen muss entsprechend angepasst und die soziale Abfederung neuer Maßnahmen von Anfang an mitgedacht werden.
5. Ernährungskompetenz fördern
Ernährungsbildung, Ernährungsberatung und Ernährungstherapie gilt es, im Sinne einer sozial gerechten, gesundheitsfördernden und umweltfreundlichen Ernährungskompetenz zu stärken. Dies gilt auch für die Ausbildung pädagogischer und gastgewerblicher Berufe, wie z. B. Erzieherin, Lehrer oder Köchin. Ernährungsberatung und Ernährungstherapie sollten zukünftig niedrigschwellig allen zur Verfügung stehen.
6. Augenmerk auf Ernährung im Gesundheitswesen
Ziel der Ernährungswende muss es sein, die Versorgung und Befähigung von Menschen mit besonderen Ernährungsbedürfnissen zu gewährleisten. Es gilt, die Qualifizierung und Verankerung von Ernährungsbildung und Ernährungstherapie im Gesundheitswesen systematisch zu verbessern.
7. Gutes Essen bei der Gemeinschaftsverpflegung
Die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Gemeinschaftsverpflegung werden evidenzbasiert und zeitnah mit Blick auf die planetaren Grenzen weiterentwickelt und als Mindeststandards flächendeckend in den verschiedenen Lebenswelten umgesetzt. Kitas, Schulen, Betriebe, Krankenhäuser, Pflege sowie Senioren und Rehaeinrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, für eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung zu sorgen. Dies muss durch Sozialkassen und Steuermittel refinanziert werden.
8. Vorbild öffentliche Kantinen
Öffentliche Einrichtungen müssen Vorreiter für eine nachhaltige und gesunde Ernährung und bei der Schaffung von Märkten für nachhaltige Produkte und Dienstleistungen sein. Dazu gehören die sukzessive Erhöhung des Anteils an Bioprodukten (50 Prozent bis 2030) sowie verpflichtende Maßnahmen zur Messung und Ver meidung von Lebensmittelabfällen.
9. Verbindliche Regulierung von (an Kinder gerichteter) Lebensmittelwerbung
Kinder sehen in Deutschland im Durchschnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel pro Tag – trotz unverbindlicher Versprechungen der Werbeindustrie, solche Produkte nicht gegenüber Kindern zu bewerben. Deshalb braucht es verbindliche gesetzliche Regeln, um Kinder in allen medialen Formaten – einschließlich Social Influencing – vor Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen. Auch Werbung für Erwachsene muss stärker reguliert werden.
10. Mehr nachhaltig produziertes Obst und Gemüse
Der nachhaltige Anbau von Obst, Gemüse, Nüssen und Hülsenfrüchten in Deutschland muss verstärkt gefördert und die Erzeugerinnen und Erzeuger müssen unterstützt werden, um eine ausgewogene und nachhaltige pflanzenbasierte Ernährung in Deutschland zu ermöglichen.
Eine echte Ernährungswende für alle kostet Geld und kann nur gelingen, wenn auch die Finanzierung sozial gerecht gestaltet wird. Einkommensschwache Haushalte dürfen keine zusätzliche Belastung erfahren. Eindeutig ist aber auch: Nicht zu handeln kostet ebenfalls: Geld, Gesundheit und Zukunft.
Die Initiatorinnen und Initiatoren des Appells treten gemeinsam an die Öffentlichkeit, um die Notwendigkeit und Dringlichkeit von #ErnährungswendeAnpacken! aufzuzeigen und dafür einzutreten. Weitere Verbände und Organisationen sind herzlich eingeladen, der Initiative beizu-treten. Machen Sie mit! Es gilt, keine Zeit zu verlieren!
Es muss jetzt gehandelt werden.
Für uns, unsere Gesundheit und unseren Planeten!
Grafik Header: WWF
Kontakt
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ), Anna Tiedtke, Referentin Gesundheitspolitik, anna.tiedtke[at]uminfo.de
BerufsVerband Oecotrophologie e. V. (VDOE), Dr. Andrea lambeck, Geschäftsführerin, a.lambeck[at]vdoe.de
Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V., Philip Plättner, Vizepräsident für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, president[at]bvmd.de
Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e. V. (BÖLW), Dr. felix Prinz zu Löwenstein, Vorstandsvorsitzender, info[at]boelw.de
Deutsche Adipositas Gesellschaft e. V. (DAG), Prof. Martina de Zwaan, Vorsitzende, mail[at]adipositas-gesellschaft.de
Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der DAG, PD Dr. med. Susann Weihrauch-Blüher, Sprecherin der AGA Oberärztin/Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, aga-sekretariat[at]charite.de
Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), Dr. med. Lisa Pörtner, Fachärztin für Innere Medizin, lpoertner[at]posteo.de
Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), Barbara Bitzer, DANK-Sprecherin, info[at]dank-allianz.de
Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin e. V. (DGEM, Brigitte Herbst, Öffentlichkeitsarbeit, Kongressorganisation, Projekte, brigitte.herbst[at]dgem.de
Deutsches Netzwerk Schulverpflegung (DNSV), Dr. Michael Polster, Vorsitzender, info[at]schulverpflegungev.net
Der Paritätische Gesamtverband, Wiebke Schröder, Referentin Übergreifende Fachfragen und Zivilgesellschaft, zivilgesellschaft[at]paritaet.org
Netzwerk der Ernährungsräte, Anna Wissmann, Koordinatorin des Netzwerkes, anna.wissmann[at]tasteofheimat.de
Physicians Association for Nutrition (PAN), Niklas Oppenrieder, Medizinischer Leiter, n.oppenrieder[at]pan-int.org
Slow Food Deutschland e. V., Dr. Nina Wolff, Vorsitzende, nina.wolff[at]slowfood.de
Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e. V. (VDD), Uta Köpcke, Präsidentin, Uta.Koepcke[at]vdd.de
World Wide Fund For Nature (WWF) WWF Deutschland, Tanja Draeger de Teran, Expertin für nachhaltige Ernährung, Tanja.Draeger[at]wwf.de
Quellen
[1] Zukunftskommission Landwirtschaft (2021): Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe; WBAE (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung; Bürgerrat Klima (2021): Bürgergutachten Klimapolitik; Landfrauen (2021): Positionspapier Nachhaltiger Fleischkonsum - mit Ernährungskompetenzen für Gesundheit und Klima; Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (2021): Positionspapier Ernäh-rung und Gesundheit; Wuppertal Institut (2021): Zukunftsfähige Ernährungssysteme und Konsummuster gestalten; Rat für Nachhaltige Entwicklung (2020): Konsequente Weichenstellung für ein nachhaltiges Ernährungssystem tut Not; Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (2021): Gutachten zur Lage der Verbraucherinnen und Verbraucher; WWF (2021): Positionspapier So schmeckt Zukunft: Gesunde Ernährung für eine gesunde Erde.
[2] Policy Evaluation Network (2021): Food Environment Policy Index (Food-EPI): Evidenzbericht für Deutschland. https://www.jpi-pen.eu/images/reports/Food-EPI_Germany_Evidence_Report.pdf
[3] IPBES (2019): Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services; FAO, IFAD, UNICEF, WFP & WHO. (2017): The State of Food Security and Nutrition in the World (2017): Building resilience for peace and food security; WWF (2020): Living Planet Report 2020.
[4] IPCC (2019): „Summary for Policymakers “. In: Climate Change and Land: an IPCC special report on climate change, desertification, land degradation, sustainable land management, food security, and greenhouse gas fluxes in terrestrial ecosystems. https://www.ipcc.ch/srccl/chapter/summary-for-policymakers/
[5] WWF (2021): So schmeckt Zukunft: Der kulinarische Kompass für eine gesunde Erde. Klimaschutz, landschaftliche Fläche und natürliche Lebensräume. https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/kulinarische-kompass-klima.pdf
[6] Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V.: „Prävalenz der Adipositas im Erwachsenenalter.“ In: Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V. online. https://adipositas-gesellschaft.de/ueber-adipositas/praevalenz/
[7] Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V. (2021): „Adipositas bei Kindern: eine ‚stille‘ Pandemie.“ In: Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V. online. https://adipositas-gesellschaft.de/adipositas-bei-kindern-eine-stille-pandemie/
[8] Meier, T. et al. (2015): Healthcare Costs Associated with an Adequate Intake of Sugars, Salt and Saturated Fat in Germany: A Health Econometrical Analysis.
[9] WBAE (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung; Bürgerrat Klima (2021): Bürgergutachten Klimapolitik