erschienen im bioland-Fachmagazin
Mainz, 01.09.2019. Weltweit ernten Bauern so viel wie nie zuvor. Und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch pro Kopf. Rein rechnerisch genügt das produzierte Essen, um zwölf bis 14 Milliarden Menschen gesund zu ernähren.
Doch Rechnung und Realität klaffen auseinander: Jeder neunte Erdenbürger hungert. Auf 820 Millionen Menschen summierte sich die Leidensgemeinschaft derer, die 2018 nicht genug zu essen hatten. Knapp eine weitere Milliarde Menschen ist unterernährt, Tendenz steigend. Denn in den vergangenen drei Jahren verschlimmerte sich die globale Ernährungssituation.
Das geht aus dem neuesten Welternährungsbericht von FAO, UNICEF und Welternährungs- und Gesundheitsorganisation hervor.
Was in globalen Zahlen fern und abstrakt aussieht, wird für den betroffenen Menschen zur Katastrophe. Bauern in Äthiopien oder auf den Philippinen erleben – auch wenn sie auf verschiedenen Kontinenten leben – diese Bedrohungen existenziell. Angesichts der stark ansteigenden Bevölkerung sind die Chancen ihrer Kinder minimal, außerhalb der Landwirtschaft
Einkommensmöglichkeiten zu finden. Die Folge ist die fortschreitende Nutzung von Flächen, die eigentlich für landwirtschaftliche Nutzung nicht geeignet sind, vor allem in steilem Bergland. Die Klimakrise senkt den Wasserstand der Brunnen in unerreichbare Tiefen und stellt die Existenz der Bauern und ihrer Familien durch Dürreperioden oder Taifune infrage, die in Südostasien immer häufiger, heftiger und unberechenbarer werden. Die schlimmste Auswirkung all dieser Katastrophen ist die Bedrohung ihrer Ernährungsgrundlage.
Geht es nach den Protagonisten der Agrarindustrie und der industriell organisierten Landwirtschaft, dann gibt es daraus nur einen Schluss: Wir müssen noch mehr produzieren – und zwar am intensivsten auf den „Gunststandorten“ des globalen Nordens. Dazu braucht es Düngemittel, Pestizide und Gentech-Pflanzen. Diese Geschichte wird viel erzählt, sie ist aber falsch. Schaut man genauer auf die Hungernden, Unterversorgten und Fehlernährten, wird deutlich: Zwei Drittel der hungernden Menschen leben auf dem Land. Die Hälfte der Hungernden sind Kleinbauern. Insbesondere Frauen in Entwicklungsländern sind
systembedingt benachteiligt.
Modell Agrarindustrie: nicht zukunftsfähig
Das System industrieller Landwirtschaft, wie es die großen Agrarchemiemultis forcieren, ist nicht zukunftsfähig. Denn dass gerade die Menschen auf dem Land durch extreme Armut am meisten Mangel leiden, zeigt: Eine Landwirtschaft, die nicht ohne teure Betriebsmittel funktioniert, versagt bei der Ernährungssicherung in den meisten ländlichen Regionen weltweit. Die industrielle Landwirtschaft löscht fatalerweise genau jene Ressourcen aus, die unsere wachsende Weltbevölkerung braucht, um satt zu werden. Große Teile der Klimakrise und des Artenrückgangs gehen auf sie zurück. Eine falsche Bewirtschaftung und der Klimawandel zerstören heute mehr als zehn Millionen Hektar fruchtbaren Bodens im Jahr.
Die steigenden Kosten für Betriebsmittel zeigen, dass es in Zukunft weder sinnvoll noch möglich sein wird, den mit enormen Energiemengen hergestellten Stickstoff zur Grundlage des Pflanzenanbaus zu machen. Umso mehr, weil Stickoxide den Treibhauseffekt verstärken und Nitrat die Gewässer belastet. Ähnlich sieht es mit Phosphat aus. Die Lagerstätten werden in wenigen Jahrzehnten erschöpft sein.
Die Alternative
Für die Autoren des Weltagrarberichtes, Experten von Entwicklungshilfeorganisationen, die Mitglieder der Panels für Klimawandel (IPCC) und für Artenvielfalt (ipbes) und eine zunehmende Anzahl von Agrarwissenschaftlern führt diese Diagnose
zu einer unumgänglichen Therapie: Unsere Landwirtschaft muss ökologisch werden und unsere Ernährungsweise auch. Das Gegenmodell zur Agrarindustrie ist die ökologische Landwirtschaft mit ihrem umfangreichen Methodenrepertoire. Mit ökologischer Intensivierung können Bauern weltweit kostengünstig ihre Erträge steigern und verbessern damit ihr Einkommen. Die Grundlage bildet eine Kombination von modernster wissenschaftlicher Erkenntnis und dem reichen Erfahrungsschatz, den insbesondere traditionelle Gesellschaften noch besitzen.
Beispiele in Haiti oder auf den Philippinen, in Kenia oder Äthiopien zeigen, dass dort, wo heute Menschen Hunger leiden, Bauern ihre Erträge und Einkommen ökologisch steigern können. Und zwar, ohne die Fehler der Industrienationen zu wiederholen, ohne ihre Böden durch falsche Bewirtschaftung auszulaugen und ohne in Abhängigkeiten von Chemikalien und
Patenten zu geraten. In einer 2018 veröffentlichte Studie, die vom katholischen Hilfswerk Misereor finanziert wurde, wurden in Brasilien, Indien und Senegal konventionelle und nach agrar-ökologischen Prinzipien wirtschaftende Landwirte verglichen: Die Ergebnisse bestätigen eindrücklich, wie Produktivität und Wirtschaftlichkeit, Sicherung der bäuerlichen Einkommen und der Beitrag zur Ernährungssicherheit in fortschrittlichen, wissensbasiert arbeitenden Öko-Betrieben deutlich besser gelingen.
In Bildung investieren
Die Zeit ist längst gekommen, nicht mehr das „Ob“, sondern das „Wie“ zu diskutieren. Wie schaffen wir die Transformation zu einer ökologischen Landwirtschaft, die auch den vielen Hungernden heute und den künftigen Generationen ihre Lebenschancen lässt? Ein Schlüssel für den Erfolg liegt weltweit im Wissenstransfer und in der Ausbildung, besonders von Frauen und Mädchen. Das zeigt zum Beispiel Timbaktu, eine Kooperative in Südindien, in der mittlerweile 1.800 Kleinbauern aus 45 Dörfern im Bio-Programm der Genossenschaft engagiert sind. Ein gutes Stück des Timbaktu-Erfolges beruht darauf, dass Frauen Frauen stärken, auf Ausbildung und Erziehung, verbesserten Rechten für Landarbeiterinnen und auf der Dorfentwicklung.
Vor allem die Kleinbauern, die besonders stark von Hunger betroffen sind, obwohl sie selbst den Großteil der Lebensmittel weltweit produzieren, müssen im Zentrum einer ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltigen landwirtschaftlichen Politik stehen. Ein politischer Hebel, der weltweit wirkt, ist der Stopp menschenfeindlicher und umweltzerstörender Subventionen. Wird eine Landwirtschaft honoriert, die Ressourcen zerstört, schadet das Boden, Gewässer und Klima, den Bauern und allen Menschen, die unter den Folgen von Preisdumping oder Umweltzerstörung sowie der Klimakrise leiden.
Die Entwicklung zu mehr Ökolandbau ist weltweit zu beobachten. Der indische Bundesstaat Sikkim setzt auf Öko-Pflicht via Dekret. Weitere indische Bundesstaaten wollen dem „Öko-Staat“ folgen. Auch der kleine Staat Bhutan hat bereits 2012 eine Komplettumstellung auf Ökolandbau geplant. Wissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin halten das Ziel für realistisch. Viele Beispiele auf allen Erdteilen zeigen schon heute: Biolandbau funktioniert weltweit und vor allem dort, wo Menschen Hunger leiden. Wenn Forschung und staatliche Unterstützung den Ausbau forcieren, wird der ökologische Umbau der Land- und Ernährungswirtschaft schnell vorankommen.
Weitere Informationen: Welternährungsbericht 2019, www.kurzlink.de/Ernaehrungsbericht19