Berlin, 12.10.2020. Die Ökologische Lebensmittelwirtschaft seit Jahrzehnten für eine gesunde und nachhaltige Ernährung mit entsprechenden Produkten ein. Dabei wird „gesunde Ernährung“ als ein umfassender Ansatz verstanden, der aus folgenden Komponenten besteht:
- Die Erzeugung erfolgt so, dass das Ökosystem als Grundlage menschlichen Lebens gesund bleibt, indem z. B. keine chemisch-synthetischen Dünge- und Pflanzenschutzmittel oder Gentechnik mit ihren negativen Auswirkungen auf den Naturhaushalt eingesetzt werden. Der existenzielle Zusammenhang zwischen einer gesunden Umwelt und der menschlichen Gesundheit wurde im Kontext der Corona-Pandemie aktuell von Papst Franziskus, aber auch von Naturwissenschaftlern klar herausgestellt.
- In der Verarbeitung werden möglichst schonende Verfahren genutzt, Vor- und Leitbild ist die Vollwerternährung. Zudem werden keine gesundheitlich oder ökologisch problematischen Zusatz- oder Hilfsstoffe oder Verarbeitungsverfahren verwendet, die negative Wirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, damit auch das verarbeitete Lebensmittel eine gesunde Ernährung unterstützen kann.
- Die Kommunikation zu Bio-Lebensmitteln unterstützt den Aufbau einer fundierten Ernährungskompetenz als Grundlage für informierte Kauf- und Zubereitungsentscheidungen auf Seiten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Damit wird eine vielfältige, gesunde und nachhaltige Ernährung ermöglicht.
Der BÖLW begrüßt grundsätzlich Maßnahmen für eine verständliche Kommunikation der Nährwertinformation bzw. von Informationen über die Zusammensetzung und Produktionsweise von Lebensmitteln an Kundinnen und Kunden. Das NutriScore-System in seiner jetzigen Ausprägung ist aus unserer Sicht jedoch nicht nur wenig zielführend, es stellt auch eine Benachteiligung der ökologischen Lebensmittelwirtschaft bzw. von ökologisch erzeugten/verarbeiteten Produkten dar.
NutriScore-System ist (zu) wenig zielführend für die Zielsetzung einer gesunden Ernährung
Gemäß dem eigenen Anspruch des NutriScore soll eine positive (grüne) Auslobung eines Produkts potenziellen Käufern nur signalisieren, dass das Produkt innerhalb der jeweiligen Kategorie eine vorteilhafte oder zumindest nicht besonders negative Nährwertbilanz aufweist. Unterschwellig sendet eine grüne NutriScore-Auslobung an die Kundinnen und Kunden jedoch die Botschaft, dass es sich um ein „gesundes“ Produkte handele, dessen regelmäßiger bzw. intensiver Konsum eine gesunde Ernährung unterstütze.
Natürlich ist den meisten Verbraucherinnen und Verbraucher bei rationaler Betrachtung bewusst, dass z. B. der intensive Konsum von Tiefkühlpizza nicht gesund ist. Die Kaufentscheidung am Regal wird aber innerhalb von Sekundenbruchteilen und damit eher ohne längere Reflexion getroffen. Deshalb kann die NutriScore-Auslobung nur dann einen (begrenzten) Beitrag zu einer gesunden Ernährung leisten, wenn sie durch andere ernährungspolitische Maßnahmen und insbesondere durch deutlich verstärkte Anstrengungen zur Ernährungsbildung im Rahmen einer ganzheitlichen ernährungspolitischen Strategie ergänzt wird.
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz Ihres Hauses, der in seinem Gutachten „Politik für eine nachhaltigere Ernährung“ auf eine integrierte Ernährungspolitik drängt, mit der die notwendige Transformation des Ernährungssystems auf den Weg gebracht werden kann.
NutriScore-Auslobung ist (derzeit) nicht überprüfbar
Eine wichtige Voraussetzung für die erfreulich dynamische Nachfrage nach Bio-Lebensmitteln ist das umfassende Öko-Kontrollsystem. Verbraucherinnen und Verbraucher können darauf vertrauen, dass eine Bio-Auslobung auf der Verpackung tatsächlich die Bio-Qualität des Produkts widerspiegelt.
Die Berechnung des NutriScore erfolgt durch einen Algorithmus, der neben gesetzlich vorgeschriebenen Nährwert-Angaben auf der Verpackung auch Parameter berücksichtigt, die nur durch eine Offenlegung der Rezeptur des jeweiligen Produkts überprüft werden können. Die Lebensmittelüberwachungsbehörden in Deutschland haben jedoch keine Befugnis zur Prüfung von Rezepturen, können also die wahrheitsgemäße Angabe des NutriScore gar nicht überprüfen. Damit ist zu befürchten, dass insbesondere „falsch-positive“ NutriScore-Auslobungen auftreten, welche die Kundinnen und Kunden über die wahre Qualität des jeweiligen Produkts täuschen. Uns sind derzeit keine politischen Prozesse bekannt, mit denen diese Problematik korrigiert werden kann bzw. soll.
Benachteiligung von kleinen/mittleren Lebensmittelherstellern durch den NutriScore
Die Vorbereitung und Umsetzung der NutriScore-Berechnung einschließlich der Neugestaltung von Verpackungen sind ein aufwändiger Prozess, der für kleine und mittlere Unternehmen aufgrund von Skaleneffekten erheblich anspruchsvoller ist als für Großunternehmen.
Außerdem verlangen die Vorgaben zur Nutzung des NutriScore, dass alle Produkte einer Marke mit dem NutriScore gekennzeichnet werden müssen, damit Hersteller nicht einzelne „gute“ Produkte hervorheben und damit das Image der Marke verbessern und dabei negative NutriScore-Ergebnisse unter den Teppich kehren können. Dieser Ansatz ist aus Sicht des Verbraucherschutzes grundsätzlich nachvollziehbar. Allerdings ist die Etablierung und Führung einer Marke für kleine und mittlere Unternehmen eine erhebliche Herausforderung, wie sie insbesondere in der ökologischen Ernährungswirtschaft typisch sind. Deshalb können diese Unternehmen in der Regel ihr gesamtes Sortiment nur unter einer oder maximal zwei Marken vertreiben. Große, multinationale Lebensmittelkonzerne vertreiben ihre Produkte dagegen z. T. unter mehr als 1.000 verschiedenen Marken. Sie können also relativ problemlos Produkte mit „gutem“ NutriScore unter einer (neuen) Marke auf den Markt bringen und diese dann auch gezielt mit großen Budgets bewerben, während Produkte mit schlechterer NutriScore-Bewertung einfach ohne das Label vertrieben werden.
Benachteiligung von Bio-Lebensmitteln durch das NutriScore-System
Wie bereits bei der Verbändeanhörung zum NutriScore im BMEL am 17.12.2019 angesprochen, bedeutet das NutriScore-System in seiner gegenwärtigen Ausprägung eine Diskriminierung von Bio-Lebensmitteln. Für konventionelle Hersteller ist die Verbesserung der NutriScore-Bewertung vergleichsweise einfach, weil „schlecht“ bewertete Zutaten durch Zusatz- oder Hilfsstoffe ersetzt werden können, die vom NutriScore nicht erfasst werden (z. B. Zucker durch Zuckeraustauschstoffe).
Die Verwendung von Zusatz- und Hilfsstoffen in der Bio-Lebensmittelverarbeitung ist in der EU-Öko-Verordnung stark eingeschränkt, Bio-Herstellerinnen und -Hersteller können also ihre Produkte nicht in vergleichbarer Weise „schöntricksen“.
Verschärft wird diese Problematik durch die neue EU-Öko-Basisverordnung 2018/848, mit der die ohnehin schon strikten Vorgaben für die Aromatisierung von Bio-Lebensmitteln noch verschärft werden. Ein konventioneller Fruchtjoghurt, der seinen intensiven „Fruchtgeschmack“ dem Zusatz von Aroma verdankt, das als zuckerfreier Bestandteil nicht vom NutriScore bewertet wird, würde demnach besser abschneiden als ein Bio-Fruchtjoghurt, der sein Aroma aus den enthaltenen Früchten gewinnt, die natürlicherweise auch Fruchtzucker enthalten.
Problematisch ist auch, insbesondere für die Bio-Branche, die fehlende Würdigung der Vorteile von Vollkorn-Produkten und Ballaststoffen im NutriScore-System. Die ernährungsphysiologischen Unterschiede zwischen beispielsweise einem Auszugsmehl der Type 405 und einem Vollkornmehl sind wissenschaftlich unstrittig, im NutriScore würden aber beide Mehle gleich bewertet. Da gerade Bio-Lebensmittel häufig auf Basis von Vollkorngetreide produziert werden, benachteiligt diese Fehlbewertung die Bio-Branche überproportional.
Zudem steht diese Benachteiligung von Bio-Lebensmitteln im Widerspruch zu regionalen, nationalen und europäischen Zielsetzungen bezüglich der Ausweitung der ökologisch bewirtschafteten Fläche.
Lücken im NutriScore-System – Gefahr von wettbewerbsverzerrenden Effekten
Problematisch sind außerdem Lücken in der Bewertung bestimmter Produkte. So werden bei Speiseölen z. B. nur der Anteil der ungesättigten Fettsäuren insgesamt, nicht aber das Verhältnis bestimmter ungesättigter Fettsäuren zueinander bewertet (z. B. das Verhältnis von Omega3- zu Omega6-Fettsäuren). Außerdem werden bisher nur bestimmte Öle mit ungesättigten Fettsäuren im Algorithmus abgebildet (Raps-, Walnuss- und Olivenöl), andere – gerade in Deutschland relevante Öle wie z. B. Leinöl, Kürbiskernöl u. a. aber nicht.
Auch Kerne und Ölsaaten (z. B. Sonnenblumen-, Sesam-, Hanf- und Leinsaat), die als Zutaten z. B. in Salaten oder Müsli relevant sind, werden bisher – im Unterschied zu Nüssen – im NutriScore nicht positiv berücksichtigt, sondern tragen wegen ihres Fettgehalts sogar zu einer schlechteren Bewertung der jeweiligen Produkte bei.
Gefriergetrocknete Früchte werden ebenfalls nicht zum Obst-/Gemüse-Anteil gerechnet, obwohl die Gefriertrocknung ein mit Blick auf den Nährstoffgehalt besonders schonendes Verfahren ist.
Und während unverarbeitete Hülsenfrüchte als Obst/Gemüse gerechnet werden, gilt dies nicht für Mehle aus Hülsenfrüchten, deren Verwendung also nicht positiv berücksichtigt wird. Angesichts der großen Bedeutung von Hülsenfrüchten in einer gesundheitlich vorzüglichen fleischarmen Ernährung ist dieses Defizit im NutriScore besonders problematisch.
Sehr kritisch ist aus Sicht des BÖLW auch die fehlende Erfassung des Verarbeitungsgrades durch den NutriScore-Algorithmus. Aktuelle wissenschaftliche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass hochverarbeitete Lebensmittel aufgrund ihrer Energiedichte, dem häufigen Einsatz von Zusatzstoffen und Aromen und der damit verbundenen Geschmacksprägung deutlich ungünstigere Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben als Produkte mit einem geringeren Verarbeitungsgrad (z. B. Hall, K. D. et al., 2019). Mit Klassifizierungssystemen wie z. B. NOVA könnte die NutriScore-Bewertung entsprechend erweitert werden, das ist bisher jedoch nicht der Fall.
Der BÖLW fordert deshalb:
- Die umgehende Überarbeitung des bestehenden NutriScore-Algorithmus zur Korrektur der o.g. Defizite in den Bereichen Vollkornanteil/Ballaststoffe, hochwertige essentielle Fette/Öle, und Kerne/Saaten, nach Möglichkeit noch vor dem Inkrafttreten der Verordnung zur Einführung des NutriScore in Deutschland.
- Die Einbeziehung des Verarbeitungsgrades und der verwendeten Art und Anzahl an Zusatz- und Ersatzstoffen in die NutriScore-Bewertung.
- Die Schaffung der Voraussetzungen für eine bessere Transparenz und Überprüfbarkeit des NutriScore.
- Die Einbeziehung von Fach-Persönlichkeiten mit Expertise zu den speziellen Produktionsregeln in der Herstellung von Bio-Lebensmitteln im wissenschaftlichen Beirat, der die Weiterentwicklung des NutriScore-Algorithmus vorbereitet und begleitet.